Was Hochsensibilität bedeutet und wie sie entsteht
Eine volle Fußgängerzone. Viele Menschen, reges Treiben, laute Geräusche. Für rund 20 Prozent der Bevölkerung kann diese Umgebung zur echten Herausforderung werden: Sie gelten als hochsensibel. Im Interview erklärt Psychotherapeutin Dr. Anja Flender, was es mit dieser besonderen Eigenschaft auf sich hat.
Frau Dr. Flender, was versteht man unter Hochsensibilität?
Bei Hochsensibilität handelt es sich um ein Persönlichkeitsmerkmal, das auf einer verstärkten Wahrnehmungsfähigkeit beruht. Hochsensible Menschen nehmen in ihrer Umgebung und im Innern mehr Details wahr und verarbeiten sie viel intensiver. Dazu gehören auch stärkere Emotionen – Hochsensibilität reduziert sich jedoch nicht nur auf Gefühlsausbrüche, sondern auf ein sehr komplexes Erleben von Eindrücken und Reizen.
Wie äußert sich Hochsensibilität?
Hochsensiblen Menschen sieht man ihr Merkmal nicht auf den ersten Blick an. Betroffene sind schneller überstimuliert, es wird ihnen in gewissen Situationen und Umgebungen einfach zu viel. Jeder kennt das: Nach einem aufregenden Tag ist man erschöpft und der Kopf muss das Geschehene erst einmal in Ruhe verarbeiten. Bei Menschen mit Hochsensibilität ist diese Kapazitätsgrenze viel schneller erreicht. Die erhöhte Wahrnehmung führt dazu, dass sämtliche Eindrücke – positive wie negative – eine größere Wirkung haben.
Die Veranlagung bringt also auch Vorteile mit sich …
Auf jeden Fall! Hochsensible Menschen sind häufig empathisch, agieren hilfsbereit und unterstützend anderen gegenüber. Sie handeln nachdenklich und mit Bedacht. Dies wiederum kann allerdings zu Problemen führen, weil sie sich zu sehr auf andere konzentrieren, über ihre eigenen Grenzen hinaus handeln und sich schwer damit tun, Entscheidungen zu treffen. Sie sind oft sehr kreativ, arbeiten sehr genau, sind gewissenhaft und zuverlässig – können dadurch aber auch sehr kritisch mit sich und anderen sein.
Wie wird Hochsensibilität heute festgestellt? Handelt es sich um eine Krankheit?
Es handelt sich nicht um eine Krankheit, sondern um eine persönliche und genetische Veranlagung, die auf erhöhter Neurosensitivität beruht – das ist die innere Fähigkeit, Reize aufzunehmen und zu verarbeiten. Die sogenannte HSP-G-Skala (ein Hochsensibilitäts-Selbsttest, Anm. d. Red.), die in abgewandelter Form auch im Internet zu finden ist, gibt eine gute erste Einschätzung. Entscheidend ist nicht so sehr, eine „Diagnose“ zu stellen, sondern ob mir das Wissen um meine Veranlagung hilft, mein Leben passender zu gestalten. Wenn hochsensible Menschen aufgrund schlechter Erfahrungen mit ihrer Veranlagung psychische Probleme haben, sollten sie – wie jeder andere auch – psychotherapeutische Hilfe suchen.
Inwiefern hängen Hochsensibilität und psychische Erkrankungen zusammen?
Wer mit Hochsensibilität unter schlechten Bedingungen aufwächst, der neigt grundsätzlich auch eher zu psychischen Erkrankungen. Wer unter guten Bedingungen aufwächst, wird aber auch stabiler. Forschungen haben ergeben, dass Hochsensibilität bereits im Kindesalter die Wahrnehmung und Gefühlswelt beeinflusst. Bei psychischen Erkrankungen denken hochsensible Menschen intensiver über ihre Depression oder Angststörung nach und suchen exzessiver nach Gründen für ihren Zustand. Daher profitieren sie aber auch mehr von positiven Einflüssen, wie zum Beispiel guten Beziehungen oder einer Psychotherapie.
Wir alle sind mal traurig, mal emotional, mal überreizt. Wo liegt die Grenze zwischen Normalität, sensiblen und hochsensiblen Menschen?
Wer schon einmal eine Nacht durchgemacht hat oder übermüdet ist, der weiß: Man ist gereizter, nimmt Geräusche und andere Dinge störender wahr und es fällt einem schwerer, alles um sich herum komplett zu verarbeiten. Wahrnehmungen wie diese treten bei hochsensiblen Menschen viel früher auf, ja können sogar ein Dauerzustand sein. Sie reagieren auf viele äußere Faktoren – andere Menschen, Tiere und die Umwelt – deutlich feinfühliger. Bereits ein schöner Sonnenuntergang kann Menschen mit Hochsensibilität tief berühren.
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Hochsensibel durch den Alltag
Menschen mit ausgeprägter Sensibilität können nicht geheilt werden, sondern müssen lernen, leichter mit ihrer Persönlichkeit zu leben. Um Reizüberflutungen zu mindern, gibt Dr. Anja Flender Tipps für einen guten Umgang mit Hochsensibilität.
- Akzeptanz: Ein Verständnis für das eigene Persönlichkeitsmerkmal zu entwickeln, ist der erste Schritt, um das eigene Leben daran anpassen zu können.
- Wahrnehmung lenken: Statt Situationen wie eine volle Fußgängerzone zu meiden, kann geübt werden, sich bewusst von unnötigen Eindrücken zu distanzieren und sich auf wesentliche Dinge zu konzentrieren. Helfen können hier auch Gegenstände wie zum Beispiel Noise-Reduction-Kopfhörer in lauten Umgebungen.
- Achtsamkeit: Geist, Körper und Atmung mit Entspannungsübungen wie Yoga oder Meditation in Einklang zu bringen, führt zu mehr Ausgeglichenheit und innerer Ruhe.
- Auszeiten nehmen: Hochsensible Menschen sollten sich ausreichend Ruhepausen gönnen und eine gesunde Balance aus Aktivitäten und Auszeiten finden. Es müssen nicht alle Ansprüche erfüllt werden, stattdessen darf der eigene wohlwollende Umgang mit sich im Vordergrund stehen.